Das Pokerspiel der Eindimensionalität: Ein Plädoyer für die Balance

Johannes ist eine 37-jährige Führungskraft, passives Mitglied eines Fitnessstudios und fühlt sich erschöpft, beschämt und gleichzeitig ein wenig stolz, als er mir erzählt, dass er rund 80 Stunden pro Woche arbeitet. „Was wären Erfolge denn wert, wenn man sich nicht dafür anstrenge?“ fragt die innere Stimme, geprägt von einem tief verwurzelten Anstrengungsmotiv. Sein Anliegen für das Coaching: Er möchte seine Work-Life-Balance verbessern.

Die Höllenvorstellung als Sprachbild für Qualen im Diesseits hat in unserer modernen Welt eine neue Form angenommen: Leid als Bedingung für Erfolg. Leid als Indikator für Wert. Im Hintergrund verschwimmt die Sehnsucht nach einem freien Leben, einem Leben in finanzieller Unabhängigkeit und mit ausreichend Zeit – „Zeit für die Dinge, die wirklich wichtig sind“. Ich empfinde große Hochachtung und Empathie für Johannes. Doch zugleich entsteht vor meinem inneren Auge das Bild eines treuen, gutmütigen Hundes, der an einem nebligen Tag ziellos umherirrt, um ein Stöckchen zu suchen, dessen Existenz er fast vergessen hat.

Für die radikale Konzentration auf die Karriere bedarf es noch nicht mal masochistischer Züge. Es ist eine nachvollziehbare Strategie, die viele Menschen – statistisch gesehen mehr Männer als Frauen – verfolgen. Auch wenn es nicht immer das gleiche Ausmaß wie bei Johannes annimmt und nicht immer mit demselben Leidensdruck einhergeht, setzen viele Menschen alles auf die ungewisse Chance eines außergewöhnlichen Erfolgs in einem begrenzten Bereich ihres Lebens.

Der Preis, den sie dafür zahlen, kann hoch sein. Das verdiente Geld und die wenige Freizeit nach der Arbeit dienen oft nur als Kompensation, als Schadensersatz. Sie wissen nicht wirklich, wie sich Entspannung anfühlt, wie man eine Familie integriert oder wie man guten Gewissens einer Freizeitbeschäftigung nachgeht.

Überarbeitung und Stress hat empirisch nachweisbare relevante Auswirkungen auf die mentale und physische Gesundheit - selbst, wenn man statistisch für das Gesundheitsverhalten und das Vorhandensein anderer herzbetreffenden Risikofaktoren kontrolliert. Studien zeigen, dass übermäßige Arbeitsbelastung das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen und Depressionen verdoppeln kann. „Ich wünschte, ich hätte nicht so viel gearbeitet“ ist laut Bronnie Ware, einer Palliativpflegerin, die zweithäufigste Reue von Sterbenden.

Ich möchte hier keine Angst verbreiten oder eine einseitige Position einnehmen. Eindimensionalität ist keine schlechte Strategie, aber sie ist eine riskante. Es ist das Pokerspiel des Lebens. Wir kennen unser Blatt, doch setzen alles auf eine Karte, ohne zu wissen, ob es sich auszahlen wird oder nicht.

Wenn wir von einem gesunden Leben sprechen, ist das meistens nicht das, was ExpertInnen empfehlen. Sie sprechen von einer ausgewogenen Verteilung unserer Energie: Wir pflegen unsere Familie, Freundschaften und verfolgen Interessen außerhalb der Arbeit, die uns sinnvoll und nützlich erscheinen. Allein diese vier Säulen reichen laut Psychologe Jordan Peterson aus, um gut im Leben verankert zu sein. Es geht um Balance: Wenn eine dieser Säulen bricht, fällt nicht alles in sich zusammen. Der Preis für diese Balance ist jedoch, dass wir, je mehr wir uns darum bemühen, in keinem dieser Bereiche überdurchschnittlich erfolgreich sein werden. Doch wenn wir unser Leben als Ganzes betrachten, könnte dies eine sehr erfolgreiche Strategie sein. Es ist ein bewusstes Risikomanagement mit kalkulierbaren Kosten - statt Poker, das Investieren in diverse Aktien.

Entscheidet man sich, wie Johannes, für eine gesündere Balance und ein ganzheitlicheres Leben, ist das kein einfacher Prozess. Letztlich folgen solche Veränderungen den allgemeinen Prinzipien der Verhaltensänderung. Zwei Dinge sind dabei entscheidend: Erstens, wir müssen die Veränderung wirklich wollen. Und zweitens, wir müssen wissen, wie wir sie umsetzen können. Wegen des „Wie“ suchen Menschen meine Unterstützung. Wegen des „Wollen“ verbringen sie jedoch oft längere Zeit im Coaching. Eine klare Zielvorstellung ist unerlässlich, damit die Strategien überhaupt angewendet werden. Eine gesunde Balance im Leben kann nicht nur ein „Nice-to-have“-Ziel sein. Wenn das Ziel der Balance regelmäßig mit anderen Zielen konkurriert und verliert, wird es letztlich bedeutungslos.

In Coachingprozessen wie dem von Johannes stellen sich daher zwei entscheidende Fragen: Warum möchte ich eine Balance in meinem Leben? Und was bin ich bereit, dafür zu geben?

 

Hakim, C. (2006). Women, careers, and work-life preferences. British Journal of Guidance & Counselling, 34(3), 279–294. https://doi.org/10.1080/03069880600769118

Kivimäki, M., Jokela, M., Nyberg, S. T., Singh-Manoux, A., Fransson, E. I., Alfredsson, L., … Virtanen, M. (2015). Long working hours and risk of coronary heart disease and stroke: a systematic review and meta-analysis of published and unpublished data for 603 838 individuals. The Lancet, 386(10005), 1739–1746. https://doi.org/https://doi.org/10.1016/S0140-6736(15)60295-1

Peterson, J. B. (2018). 12 rules for life: An antidote to chaos. Penguin UK.

Ware, B. (2012). The top five regrets of the dying: A life transformed by the dearly departing. Hay House, Inc.

Zurück
Zurück

Der Schneeball Effekt der Teammotivation

Weiter
Weiter

Welches Coaching ist das Richtige?